Wusstet ihr, dass sich euer Weg über Hügel, durch Täler und Schluchten winden kann, vorbei an verträumten Ebenen? Über Flüsse und Ozeane hinweg und durch murmelnde Bäche? Wusstet ihr, daß er unter dem Meer, über dem Meer hindurchführen kann? Wie werdet ihr wissen, daß ihr auf dem richtigen Weg seid? Wenn ihr ein Lächeln auf eurem Gesicht tragt; wenn das, was ihr tut, euch glücklich macht. Der richtige Weg ist immer dort, wo ihr glücklich seid. (Ramtha)
Unter einem Himmel, der meist gütig, manchmal grimmig, jedoch immer verlässlich über schattige Olivenhaine wacht und sich irgendwann mit dem strahlenden Blau des Meeres vermählt, betrat Dr. med. Sophie Leiter an einem sonnigen Tag im Mai Korfu zum ersten Mal in ihrem Leben. In Deutschland befand sich alles ordentlich an seinem Platz. Sie liebte ihre Arbeit als Ärztin in einer Klinik in Münster und hatte damit ihre Berufung gefunden. Nach einigen Enttäuschungen war Michael vor einem Jahr in ihr Leben getreten, und er war der Mann, mit dem sie alt werden wollte. Noch führten sie eine Fernbeziehung, doch Sophie war zufrieden. Alles entwickelte sich zum Besten.
Am Flughafen wartete Rolf in dem kleinen Café am Ende der Straße vor der Abflughalle und hatte sie bereits entdeckt, als sie mit ihrem Koffer suchend am Straßenrand stand. Viele Touristen strömten auf die zahlreichen Busse oder Taxen zu, die sie zu ihren Feriendomizilen bringen würden. Er hatte seiner Freundin Martha versprochen, Sophie vom Flughafen abzuholen und die hatte ihm ein Foto mitgegeben. „Damit du Sophie erkennst, komme ja nicht ohne sie, hörst du?“, hatte sie lachend gesagt. Die beiden Frauen hatten vor einigen Jahren noch in der Klinik zusammengearbeitet und waren Freundinnen geworden. Inzwischen war Martha mit einem Griechen verheiratet und führte mit ihm eine kleine Pension im Nordwesten der Insel
Sophie trug Jeans, ein hellblaues Sweatshirt und rote Sneaker. Sie war sehr gespannt, wie sich Martha in einem so vollkommen anderen Leben eingelebt hatte. Während des Fluges hatte sie sich an die Abschiedsfeier in der Klinik und die netten Worte des Chefarztes Prof. Dr. Boek erinnert.
Frau Doktor Werner, mit Ihnen verliert diese Klinik eine hervorragende Ärztin, was ich sehr bedauere. Dennoch wird hier jeder verstehen, dass Sie der Stimme Ihres Herzens folgen. Genau das macht nämlich eine gute Kardiologin aus. Wir haben alle für das Abschiedsgeschenk zusammengelegt und ich habe die Ehre, es Ihnen überreichen zu dürfen.
Martha hatte vor Rührung geweint, als sie ein faustgroßes Herz aus Porzellan in den griechischen Farben ausgepackt hatte.
Rolf stand auf und warf den Pappbecher, aus dem er einen Frappé getrunken hatte, in den Abfalleimer.
„Sie müssen Sophie sein. Mein Name ist Rolf. Herzlich Willkommen auf Korfu. Martha hätte Sie gerne selbst abgeholt, allerdings geht es ihrer kleinen Tochter heute nicht gut, deswegen wollte sie zu Hause bleiben.“
Er zeigte ihr das Foto.
„Das wusste ich schon. Sie hat mir vor meinem Abflug in Hannover eine Nachricht mit Ihrem Bild geschickt, damit ich nicht bei einem falschen Mann ins Auto steige“, lachte sie und strich sich eine braune Locke aus der Stirn, „es ist hoffentlich nichts Schlimmes mit der Kleinen?“
„Nein, ich denke nicht, es ist etwas mit dem Magen. Gestern war sie auf einem Kindergeburtstag … mehr sage ich nicht. Ist dies Ihr erster Besuch auf Korfu?“
„Sogar mein erster in Griechenland“, lächelte sie, „aber Martha hat so oft von der Insel geschwärmt, da musste ich einfach herkommen. Gut, dass Sie meine Sprache sprechen, ich kann nämlich kein Griechisch, außer Iassu und Kalimera. Wo haben sie so gut Deutsch gelernt?“
„Zu Hause, ich bin aus Bonn. Vor ungefähr dreißig Jahren war ich zum ersten Mal mit meinen Eltern hier. Kurz nach dem Abi mit einem Freund in einem alten Renault 4 und später noch ein paar Mal. Vor drei Jahren bin ich dann ganz hierher gezogen.“
„So einen Wagen hatte ich auch einmal, Revolverschaltung“, sie machte lächelnd die passende Handbewegung dazu.
„Ja, genau, ein toller Wagen. Das ganze Campingzeug ging locker hinein. Dass ich Grieche bin, denken übrigens viele.“
Sie verstauten ihren Koffer nebst Handgepäck in seinem Suzuki Jeep und fuhren los.
„Wenn Sie möchten, schließe ich das Verdeck, der Fahrtwind kann kühl werden, wenn wir nachher in die Berge kommen.“
„Nein, das ist doch herrlich! Ich habe etwas Passendes dabei, lassen Sie das Auto bitte offen, dann sieht man mehr.“
Sophie zog einen großen Schal aus ihrer Tasche.
Genau in ihrer Haarfarbe, dachte er.
„Martha hat mir schon gesagt, dass ich auch warme Sachen einpacken soll.“
„Das macht für die Abende im Mai auch Sinn, obwohl er es bisher sehr gut mit uns meint. Ich muss nur noch unterwegs in einem Laden in Dassia etwas abholen, es dauert nicht lange. In einer Stunde sind wir dann in Arillas.“
„Kein Problem, ich habe Urlaub.“
Sein Smartphone klingelte.
„Es war Martha, sie wollte wissen, ob Sie gut angekommen sind, Sie haben wohl ihr Handy ausgeschaltet.“
„Ach stimmt, ich habe noch den Flugmodus drin. Ich ändere das sofort.“
„Sie meint, wir sollten irgendwo einen Kaffee trinken, weil sie noch ihr Apartment herrichten möchte. Wegen Maria kam sie nicht dazu. Wenn das für Sie in Ordnung ist.“
„Klar, gerne, wie geht es der Kleinen?“
„Wieder besser, sie hat sich den Magen verdorben, wie ich mir schon dachte.“
Er hatte während der Fahrt in den Nordwesten der Insel irgendwann aufgehört zu zählen, wie oft sie ihrem Entzücken Ausdruck verliehen hatte.
Sie fuhren durch ein Blütenmeer von Ginster, dunkelrotem Mohn inmitten knorriger Olivenhaine, Hecken von orangenen Wandelröschen, riesigen Oleanderbüschen und Wiesen voller Mittagsblumen und Löwenmaul. Die Luft war erfüllt vom Duft der Pflanzen.
„Diese Blütenpracht!“, rief Sophie begeistert aus.
„Ja, selbst im September blüht es noch, da der Wind genügend Feuchtigkeit von den albanischen Bergen und dem griechischen Festland mit sich bringt und es ab und zu auch regnet.“
Diese Insel, die Rolf blind an ihrem Geruch erkennen würde, betrachtete er schon lange als seine Heimat.
Nach dem kurzen Abstecher in Dassia machten sie in Dafni halt.
Als Sophie von der Terrasse des Cafés Melisito in die hügelige Landschaft blickte, tat sie das auf eine solch intensive Art und Weise, die ihn erahnen ließ, dass es weit mehr war, als das bloße Staunen einer Touristin, die zum ersten Mal Korfu besucht. Diese Zauberinsel, die oft umkämpfte Sichel im Ionischen Meer, die schon Königinnen und Kaiser in ihren Bann gezogen hat, berührte auch sie.
Jetzt schweifte ihr Blick über ein weites grünes Tal zu sanft geschwungenen Hügeln, aus deren Olivenhainen stolze Zypressen wie stumme Wächter ragen, bereit, jedem Feind die Stirn zu bieten. Kleine Dörfer klammern sich an Berghänge, die irgendwann am Meer enden, um bald darauf schroffer und steiler mit den albanischen Bergen Eins zu werden.
Sie drehte sich lachend zu ihm um und ihre braunen Augen leuchteten.
„Ist das schön hier!“
„Es freut mich, dass es Ihnen gefällt.“
„Gefällt? Es ist viel mehr als nur gefallen ... es ist einfach traumhaft! Ich kann Marthas Liebe zu dieser Insel jetzt schon verstehen.“
„Wie lange bleiben Sie?“
„Zwei Wochen, nein fünfzehn Tage sogar! Ich kann gar nicht glauben, dass ich mir das leiste.“
„Oh, dann sind Sie zum Namenstag von Marthas Mann und seiner Cousine Helena ja noch hier. Der ist in Griechenland wichtiger, als der Geburtstag. Das gibt eine große Party.“
Bei einer Tasse Cappuccino und einem Stück Kuchen meinte Sophie: „Ich habe noch nie einen so guten Zitronenkuchen gegessen. Genau richtig die Kombination von Baiser und Zitrone. Nicht zu süß und nicht zu sauer. Sicher sind das Zitronen von den Bäumen dort hinten.“
„Das kann gut sein, der Apfelkuchen ist auch sehr gut.“
Sophie lachte. „Eine Mastkur wollte ich eigentlich nicht machen.“
„Vielleicht kommen Sie ja noch einmal hierher und probieren ihn, es ist nicht weit von Ihrem Apartment.“
„Also das mache ich bestimmt ... alleine schon wegen der Aussicht. Wollen wir uns nicht duzen? Wir sind beide Freunde von Martha.“
„Gerne, Sophie, das ist in der Regel auch üblich, es ist ziemlich locker hier, wenn man sich an die Gepflogenheiten der Griechen hält. Man darf es sich allerdings auch nicht mit ihnen verscher-zen.“
„Na, dann lasse ich mir vorsichtshalber alles von Martha erklären.“
Er schaute auf sein Smartphone.
„Wir können fahren, dein Zimmer ist fertig. Martha freut sich sehr, es ist nicht mehr weit, ein paar Kilometer noch.“
„Dann los, ich kann es kaum erwarten, sie wiederzusehen, mir hat sie auch gerade geschrieben. Den Kaffee und den Kuchen übernehme ich, wenn du nichts dagegen hast. Immerhin hast du mich abgeholt.“
„Danke, das nehme ich gerne an!“
„Ganz schön holprig hier“, meinte Sophie etwas später, „jetzt verstehe ich auch, warum du einen Jeep hast … bei diesen Straßen.“
„Ja, für Korfu ist das wirklich das ideale Auto.“